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Lateinamerikawoche: Ein Held des Kahlschlags – Die Kettensägenpolitik des argentinischen Präsidenten Javier Milei

Lateinamerikawoche: Ein Held des Kahlschlags – Die Kettensägenpolitik des argentinischen Präsidenten Javier Milei
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Referierte bei der Lateinamerikawoche über die Kettensägenpolitik des argentinischen Präsidenten Javier Milei: Andrés Musacchio, Professor für argentinische Wirtschaftsgeschichte an der Universität von Buenos Aires (l.), flankiert von Gisela Voltz, Bildungsreferentin bei Mission EineWelt (r.) (Foto: Thomas Nagel)
Referierte bei der Lateinamerikawoche über die Kettensägenpolitik des argentinischen Präsidenten Javier Milei: Andrés Musacchio, Professor für argentinische Wirtschaftsgeschichte an der Universität von Buenos Aires (l.), flankiert von Gisela Voltz, Bildungsreferentin bei Mission EineWelt (r.) (Foto: Thomas Nagel)

Der Mann mit der Kettensäge und die Auswirkungen seiner Politik waren eines der zentralen Themen der Lateinamerikawoche in Nürnberg. Gleich am Anfang seines Vortrags über die Politik des argentinischen Präsidenten Javier Milei stellte Andrés Musacchio, Professor für argentinische Wirtschaftsgeschichte an der Universität von Buenos Aires, die Kernfrage: „Wie kommt ein Land dazu, einen Verrückten zu wählen, der sich sogar selbst als solchen bezeichnet?“ Diese Frage könnte man derzeit auch auf andere Länder ausweiten. Milei ist noch nicht einmal die Avantgarde eines grassierenden Utra-Liberalismus, aber er hat, wenigstens bis zur erneuten Amtsübernahme Trumps in den USA, so etwas wie den Höhepunkt dieser Bewegung verkörpert, deren Protagonist*innen sich wenig Mühe geben, ihrem Handeln wenigstens einen Anschein von Rationalität überzustülpen. Überall wo die Mileis, Trumps und die weiteren nicht ganz so radikalen Apologet*innen des Utra-Liberalismus regieren oder sich anschicken, das zu tun, ist eine paradoxe Situation zu beobachten: Während sich das liberale Bildungsbürgertum verwundert und ein bisschen ratlos die Augen reibt, wie so etwas passieren konnte, gibt es in großen Teilen der Bevölkerung Zustimmung für eine Politik, die zu ihren Lasten geht.

Um das Phänomen Milei zu erklären und damit seine eigene Frage zu beantworten, holte Musacchio weit aus. Er begann bei der wirtschaftlichen Stagnation in Argentinien ab 2013 zu Zeiten der Regierung Cristina Fernández de Kirchner, machte weiter mit dem strikt neoliberalen Programm des Konservativen Mauricio Macri, der mit „sehr harten neoliberalen Ideen und Maßnahmen“ und trotz des „größten IWF (Internationaler Währungsfonds)-Kredits aller Zeiten“, der laut Musacchio zu nicht unerheblichen Teilen in privaten Taschen versickerte, die Krise verstärkte. „Negative Lohnentwicklung“ und „mehr Arbeitslosigkeit“ seien die Resultate dieser Politik gewesen, erklärte der Volkswirt und Sozialwissenschaftler. Schließlich wurde 2019 der Peronist Alberto Fernández ins Präsidentenamt gewählt. Doch auch er, führte Musacchio aus, habe es nicht geschafft, „eine Politik durchzusetzen, die zurück zu Wachstum und Transformation der Strukturen hätte führen können“. Faktoren für Fernández‘ Scheitern seien auch die Corona-Pandemie und der Krieg in der Ukraine gewesen.

Dann erschien Milei zum ersten Mal in vorderster Front auf der politischen Bildfläche – in Musacchios Worten: „In dieser Zeit tauchte ein Verrückter auf.“ Mit einer harten, polemischen Kampagne gegen Fernández und seine Partei fand Milei schnell Zuspruch und schließlich Mehrheiten. Dabei, erläuterte der Wirtschaftsprofessor, habe sich jener auf die Unterstützung des in den Krisenjahren entstandenen Dienstleistungsprekariats gestützt, dessen Mitglieder um Anerkennung und Gleichstellung mit fest angestellten und tariflich bezahlten Arbeitnehmer*innen kämpften – allerdings in der Weise, „dass die anderen ihre Rechte verlieren sollten“. Weitere Unterstützung für seine Kahlschlagpolitik habe Milei, der sich bis heute immer wieder symbolträchtig mit Kettensäge im Anschlag präsentiert, bei elitären Gruppen gefunden, die für politische Ansätze stehen, „die noch härter sind als herkömmliche neoliberale Politiken“.

Die Regierungspolitik Mileis ist in vielen Punkten identisch mit dem, was Trump in den USA anstrebt. Der Kettensägen-Mann nannte es „Schocktherapie“. Zwar konnte er seine angekündigten Vorhaben bis jetzt nicht in vollem Umfang durchsetzen, aber hinreichend viel, um gravierende Wirkungen zu erzielen. „Letztlich will Milei die Politik abschaffen“, fasste Andrés Musacchio zusammen. Der argentinische Präsident habe die „Staatsausgaben gekürzt wie noch nie“, wolle auf längere Sicht „den argentinischen Peso durch den Dollar ersetzen“ und „die Zentralbank schließen“. Es gehe „um die Vernichtung der Staatstrukturen“, warnte der Wirtschaftsexperte. Miliei reduzierte die Zahl der Ministerien um fast die Hälfte und strich tausende Stellen im öffentlichen Dienst. Zudem, so Musacchio, würden auch Einrichtungen und Institutionen abgeschafft, „die keine Defizite verursachen“, beispielsweise eine über Kinoeintrittspreise finanzierte Agentur für Filmförderung. Auch im Bildungsbereich setzt die Regierung Milei zum Kahlschlag an. Unter anderem wurde im Frühjahr 2024 das Budget der öffentlichen Universitäten um 71 Prozent gekürzt. Einrichtungen wie das renommierte Argentinische Institut für Agrartechnik (Instituto Nacional de Tecnología Agropecuaria/INTA) wurden geschlossen.

Finanzpolitischer Dreh- und Angelpunkt von Mileis Kettensägenpolitik ist die Bekämpfung der Inflation, die ihm auch in Europa, insbesondere von wirtschaftsliberalen Akteur*innen und Institutionen, zu Gute gehalten wird. Andrés Musacchio hält das für eine Fehleinschätzung. Milei habe zwar die Inflation beinahe halbiert, die Inflationsrate liege aber immer noch über 100 Prozent. Demgegenüber stehe eine schrumpfende Industrie und insgesamt eine fortschreitende Rezession. Profitieren würden lediglich der Finanzsektor, der private Bildungssektor, die Immobilienbranche und der Bergbau, während Industrie, Baubranche, Energieversorgung und Handel sich negativ entwickelten.

Leidtragende dieser ultra-liberalen Politik sind immer größere Teile der Bevölkerung. „Die Armut betrifft jetzt die Hälfte der Bevölkerung“, fasste Musacchio zusammen. Durch steigende Arbeitslosigkeit, hohe Mietpreise und sinkende Löhne steige auch die Zahl der Obdachlosen. Widerstand gegen die Politik Mileis formiere sich erst langsam. „Die Opposition ist gescheitert und wurde nachhaltig diskreditiert“, erklärte der Wirtschaftsexperte, zudem fehle ihr noch immer „ein gemeinsames Projekt“. Die Gewerkschaften würden „versuchen zu verhandeln, um zu retten, was zu retten ist“. Widerstand komme derzeit lediglich von den Studierenden, die um „die Hochschule als Aufstiegsversprechen fürchten“ und inzwischen von „marginalisierten Gruppen“. Knapp über die Hälfte der Bevölkerung glaube jedoch immer noch, ihre Situation werde sich verbessern.

Die Aussichten für die Menschen in Argentinien scheinen düster. In den USA ergreift Donald Trump derzeit ganz ähnliche Maßnahmen. Es bleibt die Frage, warum sich so viele davon überzeugen lassen, dass Profit für Wenige eine gute Idee für alle ist, und bei allem augenfälligen Elend kaum bereit sind, von dieser Überzeugung abzurücken.

von Thomas Nagel