Corona in Liberia: „Es fehlt an allen Ecken und Enden“ – Interview mit Marianne Lorenz-Jallah
Wie ist die aktuelle Situation in Liberia bezüglich Corona? Wie viele dokumentierte Infektionen gibt es?
Liberia hat zum Teil sehr schmerzliche Erfahrungen mit Epidemien. Zuletzt im letztendlich erfolgreichen Kampf gegen Ebola von 2014 bis 16. Es hat lange gedauert, bis die Menschen damals akzeptiert und verstanden hatten, dass Ebola eine reale Bedrohung ist. Viele Menschen haben sich anfangs nicht an die Regelungen des Ministry of Health gehalten und somit dafür gesorgt, dass sich Ebola schneller ausbreiten konnte. Die Menschen in Liberia wissen um die Wichtigkeit des Einhaltens von Hygieneregeln, wie vor allem Händewaschen und -desinfizieren. Ziemlich zeitgleich mit dem Bekanntwerden des neuartigen Virus Anfang Januar, haben Shopbesitzer/innen Wassereimer und –fässer mit installiertem Wasserhahn vor ihren Geschäften aufgestellt, damit sich die Kund/innen vor dem Betreten des Geschäfts ihre Hände waschen können.
Die liberianische Kultur ist stark auf Körperkontakt angewiesen. Es gibt unterschiedliche Methoden des Händedrucks, oft wird bei der Unterhaltung der Körperkontakt durch das Halten der Hände gesucht, Umarmungen sind hier etwas natürliches – anders als es bei uns in vielen Gebieten in Deutschland ist. Doch gerade dieser so wichtige Aspekt der Kommunikation führte zur schnelleren Verbreitung von Ebola und führt auch bei der Infektion mit Corona zu einer höheren Infektionsrate.
Seit 10. April wurde Liberia zum State of Emergency erklärt. Montserrado, Margibi, Nimba und Grand Kru County stehen unter der “Stay home order“ des Präsidenten.
Derzeit haben wir 59 Personen, die sich mit Covid19 angesteckt haben. Sechs sind mittlerweile verstorben, vier sind genesen, 49 sind noch erkrankt, 567 stehen unter Beobachtung.
Was geschieht zur Aufklärung der Bevölkerung?
Es gibt Songs und Videos, zum Beispiel: https://www.youtube.com/watch?v=y8Pm2EJk-uo von Präsident George Weah,
https://www.youtube.com/watch?v=E8suRGSne4I mit berühmten Liberianischen Musikern
oder dieses Aufklärungsvideo in simple Liberian English https://www.youtube.com/watch?v=nWOv8ww1ENA.
Weiterhin gibt es Comedyvideos, Transparente, Werbetafeln, Radiojingles, Talkshows in Radio und TV sowie Facebook-Posts des National Public Health Institute of Liberia (NPHIL) und des Ministry of Health sowie von Organisationen und Privatpersonen
Kontinuierliche SMS gingen auf alle Mobiltelefone in Liberia:
Zu Beginn war es die Botschaft: Coronavirus is NOT in Liberia and nobody is sick; health workers are at the borders, airports and seaports to check people who are coming in our country from other countries. For more Information call 4455.
Seit Bekanntwerden der ersten Infektionen lautet die Botschaft: Corona is IN Liberia. Do not shake hands. Avoid close contact wich sick persons. Always wash your hands with soap & clean water or use sanitizer at all times. If you have fever, go to the nearest clinic/hospital. For more information call 4455.
Zu den wichtigsten Maßnahmen gehört auch das Verteilen von Wasserfässern und Handdesinfektionsmitteln zum Händewaschen mit großen Aufklebern, die über den Schutz vor Corona aufklären durch einzelne Regierungsbeamte. Einige liberianische Hilfsorganisationen und NGOs verteilen ebenfalls Wasserfässer und Handsanitizer, Clorax und ähnliches an die Menschen in Liberia, mit Konzentration auf Monrovia
Die Kirchen nutzten vor Ausbruch des Virus in Liberia Zeit in ihren Gottesdiensten, um über das Virus und das richtige Schutzverhalten aufzuklären. Vor dem Austeilen des Abendmahls wurde allen Gottesdienstbesucher/innen Sanitizer zum Desinfizieren auf die Hände gegeben, der Friedensgruß geschah durch Friedenswinken und oder durch Zeigen des Peace-Zeichens.
Gibt es schon Maßnahmen, die ergriffen werden?
Am 16.März, einen Tag nachdem die erste Person positive auf Covid-19 getestet wurde, wurden alle Schulen und Universitäten geschlossen, Großveranstaltungen abgesagt. Die Menschen wurden angehalten, größere Menschenmassen zu meiden, Reisen durchs Land einzuschränken und stattdessen daheim zu bleiben. Nicht essential benötigte Mitarbeitende der Regierung wurden von der Arbeit freigestellt und gebeten, zu Hause zu bleiben. Dies sollte zuerst einmal für eine Woche gelten, bis mehr Klarheit über die Ansteckungswege gewonnen und mögliche Kontaktpersonen ausfindig gemacht werden konnten.
Zwei Tage später reagierten verschiedene christliche Konfessionen, wie Methodist, Providence-Baptist, Lutherans, mit dem Absagen von Gottesdiensten und sämtlichen kirchlichen Veranstaltungen und baten ihre Kirchenmitglieder, den Anweisungen des Ministry of Health Folge zu leisten. Am 22. März wurden die Regelungen verschärft, um eine weitere Ausbreitung zu verhindern, da die dritte positiv getestete Person sich auf einer Beachparty mit dem Virus angesteckt hatte. Die Regierung ordnete an, Schulen, Kirchen, Moscheen, Entertainment Centers, Casinos, Kinos, Video Clubs, Friseursalons und Barbershops, Bars und Nachtclubs zu schließen. Jeglicher Straßenverkauf ist untersagt. Sport, Partys, Hochzeiten und Beerdigungen mit mehr als 10 Personen sind untersagt. Banken und Restaurants dürfen maximal fünf Kund/innen gleichzeitig in ihren Räumlichkeiten begrüßen. Taxis dürfen drei Personen befördern, Keke zwei und Motorradtaxis eine Person. Die Busse, 18-Sitzer ebenso wie Reisebusse, wurden bei dieser Regelung vergessen oder ausgelassen.
In Supermärkten dürfen höchstens 10 Kund/innen gleichzeitig einkaufen. Mindestens sechs Fuß Abstand sollen zur nächsten Person eingehalten werden.
Die Verordnung von Verhaltensregeln und das Einschränken des öffentlichen Lebens ist die eine Seite. Die andere ist die des Einhaltens der Regeln. Für viele Menschen in Liberia ist ihr kleiner Verkaufsstand eine Notwendigkeit, um etwas Geld zu verdienen, damit die Familie etwas zu Essen hat. Mit der Anordnung der Regierung wird dieser Möglichkeit des Erwerbs derzeit ein Ende gesetzt. Jedoch gibt es keinen Ersatz für diese Familien. Also bleibt ihnen keine andere Möglichkeit, als gegen die Anordnung zu verstoßen und trotzdem zu verkaufen. Polizei und Stadtverwaltung von Monrovia mussten daher hart durchgreifen, um vor allen in den Bereichen der Stadt, wo die großen Märkte sind, das Verkaufen zu unterbinden. Sie haben in beiden großen Märkten alle Verkaufstische und –stände zerschlagen und abtransportiert.
Die ersten drei Fälle blieben für etwa 15 Tage die einzigen Fälle in Liberia. Alle hofften, dass es dabei bleiben würde. Dann jedoch stieg innerhalb einer Woche die Zahl der Infektionen auf 59.
Wie bereitet sich das Gesundheitswesen vor?
Es gibt eine spezielle Corona-Quarantäne-Station außerhalb Monrovias im Bereich der AFL (Armed Forces of Liberia). Dorthin werden alle Patient/innen mit Verdacht auf Covid-19 gebracht. Es gibt Testkits, jedoch ist nicht bekannt, wie viele das Ministry of Health erhalten hat. Das Pflegepersonal beklagt, dass es nicht vorbereitet und informiert ist, wie Patient/innen, die an Covid-19 erkrankt sind, behandelt werden können. Im Samuel K. Doe Stadium wurde eine Testing-Station eröffnet, bei der sich Personen, die Corona-Symptome haben, testen lassen können. Es wird derzeit ebenfalls über eine Haus-zu-Haus-Testung nachgedacht. Doch hier kommt wieder die Frage auf: Wie viele Testkits hat das Ministry of Health? – Ist so etwas wirklich durchführbar in einer Stadt mit mindestens 1,5 Millionen Einwohner/innen?
Die Monrovia City Cooperation hat den Vorstoß gemacht, 6000 „Contact Tracer“ auszubilden. Diese sollen bei der Identifizierung von möglichen Kontakten von Patienten mit Covid-19 helfen. Die MCC ist nicht Teil der Corona-Task Force. Daher wird ihr Vorstoß sehr kritisch gesehen. Dieser Vorschlag bietet ebenfalls Raum für Korruption, denn oft ist es möglich, bei einer kleinen Zahlung von verschiedenen Dingen ausgenommen zu werden, schneller in der Warteschlange voranzukommen, keine Strafzettel zu zahlen, an Imigration-Checkpoints ungehindert durchgelassen zu werden und ähnliches. Mit dieser „Give me small something“-Mentalität von einigen Liberianer/innen, wäre es möglich, das Contact Tracing zu unterwandern und nicht getestet zu werden.
Wie sind die Kliniken ausgestattet?
Das Gesundheitssystem in Liberia ist kaum ausgebaut. Es gibt wenige Public Hospitals, und diese sind sehr schlecht ausgestattet. Es fehlt an allen Ecken und Enden. Schon in normalen Zeiten sind Untersuchungs- und Operationshandschuhe Mangelware in den Krankenhäusern, mindestens ebenso rar ist Schutzkleidung. Krankenhauspersonal und Ärzt/innen bekommen seit Monaten kein oder nur niedriges Gehalt, weil das Geld in der Staatskasse dafür fehlt oder, besser gesagt, für andere Dinge eingestellt und eingesetzt wurde. Der Staathaushalt Liberias ist eine Flickschusterei.
Patient/innen werden für ihre Behandlung gebeten, eine bestimmte Menge an Diesel/Benzin für den Betrieb des Generators zur Verfügung zu stellen. Medikamente, die zur Behandlung benötigt werden, müssen Patient/innen oft außerhalb des Krankenhauses erwerben, da die Vorräte der Kliniken aufgebraucht sind. Schon allein das entscheidet manchmal über Leben oder Tod, denn oftmals haben die Menschen, die in die Klinik kommen, kaum bis kein Geld für eine Behandlung.
Die privaten Kliniken sind unerschwinglich für die meisten Liberianer/innen. Es gibt im gesamten Land vier Beatmungsgeräte, keines davon ist im öffentlichen Gesundheitssystem. Einige der Krankenhäuser haben eine Schutzstation eingerichtet.
Wie bereitest Du Dich vor? – Hat sich die Alltagssituation für Dich/für die Bevölkerung verändert und, wenn ja, wie?
Regelmäßiges Händewaschen und vor allem Handsanitzer zu nutzen, ist seit meinem Dienstbeginn vor zweieinhalb Jahren zur Normalität geworden. Die Flasche Sanitizer wurde zur ständigen Begleiterin, egal ob mit Karabinerhaken an der Handtasche oder im Auto. Der Getränkehalter im Auto ist hier unser Sanitizerhalter.
Seit Bekanntwerden des ersten Falls von Covid-19 in Liberia war die Anweisung der Regierung, zu Hause zu bleiben und nur sehr wichtige Reisen durchs Land zu unternehmen. Dieser sind wir als Familie, so gut es geht, nachgekommen. Seit dem Lock-Down am vergangenen Karfreitag ist es nur einer Person pro Haushalt erlaubt, für maximal eine Stunde die Wohnung zu verlassen, um Lebensmittel einzukaufen, oder für medizinische Behandlungen.
Zu Hause zu bleiben ist für mich in Liberia zu einem Privileg geworden. Wir leben in einem Compound mit noch zwei weiteren Familien, wir haben Raum innerhalb des Compounds, so dass unsere Kinder Fußball spielen können. Wir können unsere Fahrräder nutzen, um etwas Bewegung zu haben, wir haben eine ziemlich stabile Strom- und Wasserversorgung. Dazu kommt das Privileg, Lebensmittel im Kühl- und Gefrierschrank aufbewahren zu können. Dies sind alles Dinge, die etwa 85 Prozent der liberianischen Bevölkerung nicht können und nicht haben. In Monrovia gibt es Stadtteile, wo die Menschen dicht an dicht leben. Im Lock-Down-Modus könnte die Stay Home-Order der Regierung ins Gegenteil umschlagen: Statt dass die Menschen sich vor Corona schützen können, weil sie daheim sind, könnten diese Bereiche zu Infektionsherden werden. Der Lock-Down wird zu einer Bürde, und die Menschen stellen zu Recht die Frage: „Was bringt uns zuerst um – Corona oder Hunger?“ – Aus Angst vor Covid-19 sind viele Menschen aus Monrovia aufs Land geflohen. Wie gut diese Entscheidung war, wird die Zeit zeigen.
Wie ist die Situation in Deinem Arbeitsfeld?
Seit 19. März ist unser Jugendbüro, wie alle weiteren Arbeitsbereiche der Lutheran Church in Liberia (LCL) geschlossen. Gottesdienste und weitere Aktivitäten der Kirche sind seit diesem Zeitpunkt ebenfalls abgesagt. Unsere Jugendarbeit läuft derzeit online ab. Wir gestalten Sonntagsgottesdienste über Messenger und integrieren Jugendliche aus ganz Liberia bei der Gestaltung. Zudem laufen die ersten Versuche mit Zoom, Jugendlichen die Möglichkeit zu bieten, sich online zu treffen. Doch das meiste funktioniert über Facebook und seine „Livefunktion“.
Der Wiederaufbau unseres zentralen Jugendcamps in Handii, des so genannten „Camp KP“, ist zum Stillstand gekommen, da wir uns an die Regelungen der Regierung halten und die Gesundheit unserer freiwilligen Helfer/innen nicht aufs Spiel setzen wollen. Der erzwungene Baustopp wirft unsere Arbeit ziemlich zurück, denn jeder weitere Tag bringt uns näher an die Regenzeit, die nach dem hiesigen Kalender ab dem 15. April beginnt. Die ersten heftigen Regenfälle kamen schon Anfang April. Das geplante Ostercamp für die Upper and Lower South Eastern Districts haben wir auf Juni verschoben. Wir hoffen, dass sich bis dahin die Situation wieder etwas beruhigt hat und es die Regenzeit sowie die Straßenverhältnisse zulassen, in den Südosten des Landes zu reisen.
Homeoffice gibt mir die Möglichkeit, neue Workshops für unsere Camps zu entwickeln. Workshops, die Jugendlichen die Möglichkeit bieten, nicht nur kreativ zu sein, sondern das Endprodukt auch verkaufen zu können, um etwas zu ihrem Lebensunterhalt zu verdienen.
Sollte der Lock-Down und oder die Reisebeschränkungen länger bestehen, denken wir über Online Trainings für unsere Jugendlichen nach.
Wie ist Deine Einschätzung der Lage? – Wird es in Liberia gelingen, das Virus unter Kontrolle zu halten?
Wie gesagt, haben die Menschen in Liberia durch Ebola prinzipiell Erfahrung im Umgang mit einer Epidemie. Sie könnten es schaffen, das Virus unter Kontrolle zu halten, wenn alle verstehen und akzeptieren, wie gefährlich Corona ist und sich an die Anordnungen der Regierung halten. Leider gibt es derzeit viele Liberianer/innen, die den Lock-Down falsch verstehen: dass sie sich zwischen 9 und 15 Uhr frei draußen bewegen können und nach 15 Uhr daheim bleiben müssen. George Weah hat in seiner Rede an die Nation davon gesprochen, dass eine Person pro Haushalt für eine Stunde am Tag für Besorgungen oder zur medizinischen Behandlung das Haus verlassen darf. Weiter sagte er in seiner Rede, dass alle Geschäfte und Märkte spätestens um 15 Uhr geschlossen haben. Mitarbeitenden in Geschäften ist aber mit Ausnahmegenehmigung möglich, direkt von zu Hause zur Arbeit und direkt wieder zurück zu fahren. Daraus haben nun einige Liberianer/innen geschlussfolgert, dass es zwischen 9 und 15 Uhr okay ist, unterwegs zu sein. Danach nur noch im Haus, denn dann kommt Corona – das war ein sarkastisches Statement von verschiedenen Radiostationen in den letzten Tagen, um diesem Irrglauben entgegenzutreten.
Diese fatale Situation zwingt derzeit die Joint Security Forces, wie Liberia National Police, Armed Forces of Liberia, Immigration Office, Liberia Fire Service, Bureau of Corrections und andere, dazu, sehr strikt gegen Menschen vorzugehen, die sich nicht an die Regelungen halten. Dabei kommt es zum Teil auch zu Gewalt, beispielsweise durch Stockhiebe oder in Form von Zerstörung von Verkaufsständen.
Eine bessere Chance hätte Liberia, wenn das Land Unterstützung von der internationalen Gemeinschaft bekommen würde, vor allem in Form von Schutzkleidung und Medikamenten.
Marianne Lorenz-Jallah wurde von Mission EineWelt nach Liberia ausgesendet. Die Diakonin arbeitet dort als Consultant to the National Lutheran Youth Fellowship für die Lutheran Church in Liberia.