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Autoritärer Zeitgeist – Kehrseite des Neoliberalismus

Das Programm der 47. Lateinamerikawoche (Foto: Manfred Beck)

Das Programm der 47. Lateinamerikawoche (Foto: Manfred Beck)

Autoritarismus ist gerade en vogue, in Lateinamerika und eigentlich fast überall weltweit. Aber warum ist das so? – Bei der 47. Lateinamerikawoche ergründeten die Referenten Mario Neumann und Moritz Krawinkel von medico international unter dem Titel „Autoritärer Zeitgeist“ die Hintergründe für den zunehmenden Autoritarismus.

Dass Autoritarismus die Kehrseite von Neoliberalismus sei, erläuterten die Neumann und Krawinkel am Beispiel des Pinochet-Putschs 1973 in Chile, der Geburtsstunde des autoritären Neoliberalismus, angelehnt an die Analyse von Grégoire Chamayou in seinem Buch „Die unregierbare Gesellschaft“. Demnach sind für die kapitalistisch-wirtschaftlichen und politischen Eliten zu dieser Zeit die zivilgesellschaftlichen Gruppen wie Gewerkschaften, Studierende, soziale Bewegungen durch ihr sehr machtvolles Auftreten zum Problem im Sinne einer „unregierbaren“ Gesellschaft geworden. Der Putsch ermöglichte die Neuordnung nach den Vorstellungen der Chicago Boys, einer Gruppe von chilenischen Wirtschaftswissenschaftlern, die bei den neoliberalen Vordenkern Friedrich A. v. Hayek und Milton Friedman in Chicago studiert hatten und unter Pinochet sozial- und wirtschaftspolitisch sehr einflussreich waren. Die Chicago Boys verfolgten eine Doppelstrategie: einerseits eine konsequente Politik des Marktes durch Deregulierung und Privatisierung aller öffentlichen Güter wie Bildung, Gesundheit, Wasserversorgung – also eine neoliberale Schocktherapie, die auch in die Verfassung von 1980 Einzug erhielt. Andererseits ging dieser Rückzug des Staates aus der Wirtschaft mit einem starken autoritär geführten und auf Polizei- und Militärgewalt gestützten Staat einher. Auch der spätere Übergang zur Demokratie war Bestandteil dieser Pläne.

Auf Basis dieser Hintergründe betrachteten die Referenten die Situation in einigen Regionen Lateinamerikas:

In Zentralamerika lässt sich laut Neumann und Krawinkel der Verfall der Demokratie besonders deutlich beobachten: in El Salvador als „dem größten Gefängnis Lateinamerikas“, wo der zunehmend autoritäre Präsident Bukele mit Ausnahmezustand, Repression und Massenverhaftungen einen harten populistischen Kurs nicht nur gegen Bandenkriminalität, sondern auch gegen linke und soziale Bewegungen führt. Oder in Nicaragua, wo Präsident Ortega sich eine Familiendynastie im Machtbund mit rechter katholischer Kirche und rechten Unternehmern sichert und  den Aufstand von 2018 brutal niedergeschlagen hat.

Aus diesen und anderen Beispielen ließe sich, so die Referenten, folgendes Schema für das aktuelle Erstarken eines neuen Autoritarismus ableiten:

  1. Entstehung eines autoritären Klimas: durch zunehmende ökonomische und soziale Unsicherheit entsteht gesellschaftliches Chaos, Konflikte werden geschürt. Das Sicherheitsbedürfnis der Menschen wird durch starke sicherheitspolitische Maßnahmen bedient, „Mauern“ werden gebaut.
  2. Ein Gesellschaftsvertrag zerfällt: Das neoliberale Versprechen von Freiheit und individueller Leistung kann nicht mehr eingehalten werden. Große Frustration in der Bevölkerung führt zu sozialen Unruhen.
  3. Autoritarismus und faschistische Lösungen werden gegen die Legitimationskrise der herkömmlichen Eliten als Auswege aus den Krisen propagiert, eine Zustimmung auch „von unten“ wächst.

In der anschließenden Diskussion kam zunächst die Rolle Chinas bei der Entstehung dieses Trends zur Sprache. Chinas Verhalten kann zwar nicht als direkt autoritarismusfördernd angesehen werden, aber es verstärkt den Extraktivismus, also die Ausbeutung von Rohstoffen für den Export, und stabilisiert damit auch das neoliberale Ausbeutungs-Modell. Des Weiteren stehen die indigenen Bewegungen, meist Hauptleidtragende des Extraktivismus, häufig im Zentrum sozialer Konflikte und haben an Kraft gewonnen, was man auch als „indigenes Moment“ bezeichnen könnte. Vielerorts gibt es auch trotz des erstarkenden Autoritarismus erfolgreiche Gegenbewegungen und gelebte Utopien wie zum Beispiel bei der Landlosenbewegung MST in Brasilien oder der Umweltbewegung Modatima in Chile. Und es gibt auch überraschende Umschwünge wie in Guatemala, wo nach einer diktatorischen Phase nun ein sozial-progressives Regierungsbündnis unter Präsident Arévalo regiert.

Die Vorträge der Lateinamerikawoche wurden auf Video aufgezeichnet und können hier angeschaut werden:

https://www.lateinamerikawoche.de/mediathek/

 

Gisela Voltz