Corona in Brasilien: „Vielen bricht von heute auf morgen das Einkommen weg“ – Interview mit Agnes Müller-Grünwedel
Wie ist die aktuelle Situation in Brasilien bezüglich Corona? Wie viele dokumentierte Infektionen gibt es?
Brasilien ist ja ein riesiges Land und die Situation ist von Region zu Region sehr unterschiedlich. Zentren mit vielen Infizierten waren von Anfang an São Paulo und Rio de Janeiro. Sehr schwierig, scheint es in Manaus und in der Region Amazonas zu sein. Da ist die Rede von einem Kollaps des Gesundheitswesens. Auch in den Bundesstaaten des Nordostens, die schon vorher mit großen wirtschaftlichen Problemen zu kämpfen hatten, breitet sich das Virus stark aus. Und auch da gibt es wohl kaum mehr Kapazitäten in den Krankenhäusern. Aber selbst in Rio scheinen etliche hundert Menschen auf einen Krankenhausplatz zu warten. Wir leben im südlichsten Bundesstaat Rio Grande do Sul. Hier ist die Situation vergleichsweise ruhig. Die Zahl der Infizierten, die heute (am 7. Mai 2020/d. Red.) für das ganze Land veröffentlich wurde, beträgt 135.106, 9. 146 Menschen sind bisher durch den Virus verstorben, allein in den vergangenen 48 Stunden waren es um die 1200, so viele wie noch nie zuvor. Allerdings gehen viele davon aus, dass die Dunkelziffern viel höher liegen, da nur getestet wird, wer mit Symptomen ins Krankenhaus geht.
Zu der schwierigen Situation in Zeiten von Corona kommt, dass Brasilien sich schon vorher in einer wirtschaftlichen Krise befand. Und seit ein paar Wochen spitzt sich auch die politische Situation immer mehr zu. Der brasilianische Präsident schafft es ja auch regelmäßig in die deutschen Medien. Er scheint die Pandemie nicht besonders ernst zu nehmen, hat den Virus als „gripezinha“, als kleine Grippe, bezeichnet, präsentiert sich immer wieder in den Medien in Menschengruppen ohne Schutzmaßnahmen. Der Gesundheitsminister kritisierte dieses Verhalten, plädierte für die von der WHO empfohlenen Einschränkungen und Schutzmaßnahmen und wurde daraufhin vom Präsidenten Mitte April entlassen. Die Menschen waren mit der Arbeit des Ministers zufrieden, schon vom Anfang der Corona-Krise an gab es immer wieder Proteste gegen den Präsidenten. Auch wir hören in unserer Nachbarschaft abends immer wieder Menschen an den offenen Fenstern auf Töpfe schlagen. Diese „panelaços“ sind die Demonstrationen in Zeiten des Corona-Virus. Zwei Wochen nach der Entlassung des Gesundheitsministers trat dann der Justizminister zurück mit der Begründung, der Präsident mische sich in die Ermittlungsarbeit der Polizei ein und er könne sein Ministeramt unter diesen Umständen nicht mit Verantwortung ausführen.
Was geschieht zur Aufklärung der Bevölkerung?
Ich habe den Eindruck, dass in den einzelnen Bundesstaaten einiges zur Aufklärung der Bevölkerung getan wird, wobei es anscheinend oft nicht gelingt, die benachteiligten Bevölkerungsschichten zu erreichen. Eine nationale Aufklärungskampagne gab es bisher noch nicht. Nun meinte allerdings der neue Gesundheitsminister, dass es nach den Entwicklungen der letzten Tage nun doch an der Zeit wäre, eine solche zu starten. Und dass auch der Präsident dieser Meinung sei.
Gibt es schon Maßnahmen, die ergriffen werden?
Ein gemeinsames Vorgehen auf nationaler Ebene gibt es nicht, wohl haben aber die Gouverneure der einzelnen Bundesstaaten Maßnahmen ergriffen. Seit Mitte März sind zum Beispiel die Schulen geschlossen. Kurz danach dann auch alle nicht lebensnotwendigen Geschäfte, Kinos oder Restaurants. Seit ein paar Wochen darf nun jeder Landkreis abhängig von seiner Corona-Situation und der Zahl der verfügbaren Intensivbetten entscheiden und Maßnahmen erlassen. Es scheint Landkreise zu geben, in denen das Leben fast normal funktioniert. Bei uns sind seit dieser Woche kleinere Läden wieder geöffnet. Aber es gibt eine Maskenpflicht. Und sollte es notwendig sein, kann die Lockerung auch wieder rückgängig gemacht werden. Im Nordosten wiederum gibt es Städte, in denen es verboten ist, das Haus zu verlassen, außer für notwendige Arztbesuche und Einkäufe.
Wie bereitet sich das Gesundheitswesen vor?
Einen nationalen Plan scheint es nicht zu geben. Die Bundesstaaten handeln für sich und bauen zum Beispiel Zeltkrankenhäuser, oder Fußballstadien werden zu Krankenhäusern umfunktioniert.
Hat sich die Alltagssituation für Sie und für die Bevölkerung verändert und, wenn ja, wie?
Wir sind seit Anfang März in São Leopoldo und hatten gerade mal Zeit, uns einigermaßen einzurichten. Unser Sohn ist in die erste Klasse gekommen, nach gut eineinhalb Wochen war dann plötzlich alles geschlossen. Einen wirklichen Alltag hatten wir hier also noch gar nicht. Wir leben wie auf einer Insel. Die Stadt, unser neues Umfeld, auch Menschen kennen wir noch kaum. Das fühlt sich etwas komisch an. Für mich ist es eine Herausforderung, unseren Sohn beim Home Schooling und Internet-Unterricht zu begleiten, besonders bei der Alphabetisierung auf Portugiesisch. Oft fehlt mir die Geduld, da geht es mir wohl wie vielen Eltern in Deutschland auch.
Trotz unserer Herausforderungen leben wir hier sehr privilegiert, haben genug Platz im Haus, einen Garten und den Campus, wo es einen Sportplatz gibt. So haben die Kinder genug Möglichkeiten, sich auszutoben. Wir gehören nicht zur Corona-Risikogruppe und wir müssen uns um unseren Lebensunterhalt keine Sorgen machen.
Das ist bei vielen Brasilianer/innen ganz anders. Da bricht von heute auf morgen das Einkommen weg, Rücklagen sind oft nicht vorhanden. Da ist die Notwendigkeit, irgendwoher Geld oder etwas Essen zu bekommen. Es gibt eine staatliche Hilfe von 600 Reais (etwa 100 Euro). Damit kommt eine Familie auch nicht gerade weit. Wir wohnen in einem Mittelklasseviertel. Mir fällt auf, dass in den letzten Wochen mehr Menschen als sonst Recycling-Müll abgeholt haben. Wenn sie den abgeben, bekommen sie ein bisschen Geld dafür. Auch klingeln immer wieder Menschen und bitten um Essen oder warme Kleidung. Jetzt beginnt ja bei uns der Winter. Es scheint aber auch viele Menschen zu geben, die helfen wollen. Unsere Nachbarin hat Kontakt zu einer katholischen Kirchengemeinde, die Lebensmittel sammelt, um sie an Bedürftige zu geben. Auch in den Medien gibt es immer wieder Initiativen und Aufrufe, etwas zu spenden. Und da ist auch die andere Seite: Eine unserer Nachbarinnen, die einen Schönheitssalon hat, erzählte mir, dass sie nicht mehr alle ihre Angestellten bezahlen kann und nun mit ihnen nach Lösungen suchen muss. Ich habe gemerkt wie schwer ihr das fällt, welche Verantwortung sie da trägt und im Moment doch nicht erfüllen kann. Für viele Menschen ist das im Moment eine sehr schwierige Situation.
Wie ist die Situation in Ihrem Arbeitsfeld?
Mein Mann arbeitet seit März als Dozent an der lutherischen Fakultät in São Leopoldo. Auch hier wurde der Unterricht in die digitale Welt verlegt. Das wurde sehr schnell organisiert, wie ich finde. Vorher waren wir als Pfarrerin und Pfarrer in einer Gemeinde in Curitiba tätig. Was ich so mitbekomme, scheint die Situation für viele Gemeinden eine Herausforderung zu sein. Es finden keine Gottesdienste und Veranstaltungen statt. Und die Pfarrer werden direkt von den Gemeinden bezahlt. Da vielen Menschen das Geld für das tägliche Leben fehlt, können sie schwer ihren Beitrag zahlen.
Aber auch die Lutherische Kirche in Brasilien war schnell und kreativ, was das kirchliche Angebot im Internet angeht.
Wie ist Ihre Einschätzung der Lage? – Wird es in Brasilien gelingen, das Virus unter Kontrolle zu halten?
Im Moment finde ich es sehr schwer zu sagen, wie sich die Situation im Land entwickeln wird. Sowohl was das Virus angeht als auch die politische Situation. In den Medien lese ich immer wieder, dass das Land sich im Moment auf dem Corona-Höhepunkt befindet und die Zahlen in ein paar Tagen sinken werden. Für das Land und besonders die Menschen hoffe ich das sehr.
Agnes Müller Grünwedel wurde zusammen mit ihrem Mann Heiko von Mission EineWelt nach Brasilien ausgesendet. Derzeit leben und arbeiten sie in São Leopoldo