Ein gutes Leben für alle Menschen – Interview mit Alberto Acosta, Begründer der Buen Vivir-Bewegung
Der Wirtschaftswissenschaftler Alberto Acosta ist ehemaliger Minister und Präsident der verfassungsgebenden Versammlung Ecuadors. Er hat sich intensiv mit Fragen der Wirtschaft und mit Entwicklungspolitik sowie mit Alternativen zu herkömmlichen Herangehensweisen auf diesen Gebieten auseinandergesetzt. Im Interview erklärt der 75-Jährige, was es mit „Buen Vivir“ und „Pluriversum“ auf sich hat.
Sie sprechen sich für das Recht auf ein gutes Leben („Buen Vivir“) aus. Was verstehen Sie darunter und wie kann es erreicht werden?
Buen Vivir ist Erleben, nicht eine Theorie oder ein Modell. Es erzählt uns von der Existenz von Werten, Weltanschauungen, Erfahrungen und Praktiken aus indigenen Kulturen in der ganzen Welt, die nicht in die Logik der Moderne passen. Darum sagen wir, dass Buen Vivir keine Entwicklungsalternative darstellt, sondern viel mehr eine Alternative zur Entwicklung.
Buen Vivir spricht zu uns von der Fülle des Lebens; vom Leben im Gleichgewicht des Menschen mit sich selbst, vom Leben des Menschen in Harmonie in seiner Gemeinschaft und auch zwischen Gemeinschaften und vor allem vom harmonischen Leben des Einzelnen und der Gemeinschaft mit der Natur.
Dieses Buen Vivir aus den indigenen Kulturen kann man nicht kopieren und weltweit übertragen. Aber es gibt uns einige Grundpfeiler. Erstens brauchen wir einen starken Gemeinschaftssinn, zweitens eine sehr tiefe Naturverbundenheit und drittens Beziehungen, die auf Solidarität, Respekt, Gegenseitigkeit und Empathie basieren. Wir sollten andere Menschen als eine Verheißung und nicht als eine Bedrohung betrachten.
Was verbirgt sich hinter dem Namen „Pluriversum“ und worum geht es dabei?
„Pluriversum“ sagt uns in sehr einfachen Worten, dass es nicht nur ein einziges Universum gibt, verstanden als eine einzige Art, die Welt zu sehen und zu organisieren. In der heutigen Welt gibt es viele Welten, das heißt, viele Möglichkeiten, das Leben zu verstehen und das Leben anders zu gestalten. Wenn wir also das „Pluriversum“ vorschlagen, denken wir an eine Welt, in der es Platz für viele Welten gibt. Diese sollten aber alle den Menschen wie auch den nichtmenschlichen Lebewesen das Leben in Würde garantieren.
Das bedeutet, dass wir die sogenannten Externalisierungsgesellschaften unterbinden müssen. Wir meinen damit Gesellschaften, die nur auf Kosten von anderen Gesellschaften und der Natur ihr hohes Lebensniveau aufrechterhalten können.
Was sind Ihrer Meinung nach die größten Hindernisse auf dem Weg zu einer gerechteren und nachhaltigeren Welt, und was sind die größten Chancen, dies zu erreichen?
Eines der größten Probleme ist der Glaube, dass es keine Alternativen gibt, und dass es nur eine erstrebenswerte Lebensweise gibt. Ebenso pervers ist es, uns selbst für die Krone der Schöpfung zu halten, während wir in Wirklichkeit zur Krone der Erschöpfung geworden sind. Das Leben als isolierte Individuen, also als Individuen ohne Gemeinschaft, das Ich ohne das Wir, ist ein weiteres großes Hindernis.
Die Möglichkeiten sind überall auf der Welt, aber wir müssen, bildlich gesprochen, stillstehen, um auf die vielen anderen Welten zu hören, die überall auf dem Planeten atmen und handeln. Die Herausforderung besteht darin, diese Lösungen von unten nach oben zu bringen; wir müssen auf allen strategischen Handlungsebenen handeln, von der lokalen bis zur globalen, ohne die Bedeutung der nationalen und regionalen Ebene zu minimieren. Und wir müssen heute und hier handeln, weil wir nicht tatenlos abwarten können, bis die Mächtigen in der Politik und in der Wirtschaft ihre Haltung, ihre Politiken und den Kurs selbst grundlegend ändern.
Was ist Ihre persönliche Motivation, warum setzen Sie sich für das Recht auf ein gutes Leben für alle Menschen ein?
Seit meiner Kindheit wurde ich von meinen Eltern gelehrt, nach der Wahrheit zu suchen. Auf diesem Weg habe ich auch gelernt, an all den grandiosen Theorien zu zweifeln, die noch heute einen Schatten auf uns werfen.
Vor mehr als 50. Jahren habe ich in Deutschland studiert. Die Entwicklungstheorien waren für mich ein sehr wichtiges Thema. Meine Entwicklungsziele waren Länder wie Deutschland. Damals war ich fest überzeugt, dass wir uns entwickeln müssten: Entwicklung galt seit Mitte des 20. Jahrhunderts und gilt immer noch als ein globales Mandat. Viele Jahre später, als Professor im Bereich Entwicklungstheorien, habe ich verstanden, dass die Entwicklung ein Gespenst ist. Ich habe auch verstanden, dass Lösungen immer und überall zu finden sind.
Im Übrigen schätze ich immer mehr die gemeinsame Arbeit verschiedener Gruppen von Menschen, die ihre Zukunft selbst in die Hand nehmen. Wir brauchen mehr und mehr Brücken zwischen dem globalen Süden und dem globalen Norden. Gemeinsam müssen wir Alternativen zur Lösung der Probleme finden und aufbauen.
Meine fünf Enkelkinder sind zweifelsohne ein weiterer Anker für mein Engagement, für meine Hoffnung, für meine Zuversicht, dass wir Menschen wie Geschwister leben können, in Einklang mit unserer Mutter Erde.
Interview: Gisela Voltz