• Klimagerechtigkeit

Die Lage der Dinge

Ungerechtes Klima

Der Kampf gegen den Klimawandel ist ein drängendes existenzielles Problem der Menschheit. Auf der Suche nach Lösungen wird klar: Ein grundsätzliches Umsteuern ist notwendig. Der Klimawandel kann nur eingedämmt werden, wenn alle weltweit miteinander zusammenarbeiten. Gerechtigkeit ist ein wichtiger Faktor, damit das klappen kann.

Die mieseste Nachricht zuerst: Wie der EU-Klimadienst Copernicus Anfang Februar vermeldete, hat die globale Durchschnittstemperatur von Februar 2023 bis Januar 2024 erstmals 12 Monate am Stück die Marke von 1,5 Grad Celsius im Vergleich zum vorindustriellen Zeitalter überschritten. Genau das zu vermeiden, war eigentlich das große Ziel. Im Jahr 2018 bei der Weltklimakonferenz in Paris hatte sich die Staatengemeinschaft darauf geeinigt, die Erderwärmung möglichst auf eben diese 1,5 Grad Celsius zu begrenzen. Allerdings ging der Weltklimarat IPCC (Intergovernmental Panel on Climate Change) bis vor kurzem, beispielsweise in seinem Bericht zur Klimakonferenz in Glasgow 2021, davon aus, die 1,5 Grad-Marke werde in den 2030er Jahren erreicht. Im Jahr 2018, also zum Zeitpunkt der Einigung auf das 1,5 Grad-Ziel, lautete die Prognose der Forscher*innen noch auf 2040. Jetzt ist klar: Auch wenn ein Teil der Erwärmung letztes Jahr auf El Nino zurückgeht und ein Jahr auch noch kein langfristiger Trend ist: Die Erderwärmung schreitet viel schneller voran als befürchtet. [Und es geht weiter mit den traurigen Superlativen: Der Januar 2024 ist – vorerst, muss man befürchten – der wärmste Januar seit Beginn der Wetteraufzeichnungen.]

Nicht mehr aufzuhalten

Dass die Erderwärmung bei 1,5 Grad Celsius stoppt, wäre derzeit ein Wunder im wahrsten Sinne des Wortes: Es wäre gegen alle Wahrscheinlichkeiten und unmöglich plausibel zu erklären. Denn das Zutun der gesammelten Menschheit reicht bisher dafür nicht aus. Bei weitem nicht.

Ohnehin ist der Klimawandel nicht mehr aufzuhalten. Laut IPCC wäre eine Begrenzung der Erderwärmung auf 1,5 bis 1,6 Grad das Optimum, das theoretisch noch machbar sein könnte. „Doch dafür müsste die Menschheit sofort handeln. Und vor allem: Sie müsste das wesentlich tiefgreifender und konsequenter tun als bis jetzt“, analysiert Jürgen Bergmann, Leiter des Referats Bildung Global bei Mission EineWelt, die Forschungsberichte. „Wenn die Staaten dieser Welt so weitermachen wie bisher, wird sich die zu erwartende Erderwärmung laut Weltklimarat bei plus-minus 2,7 Grad bewegen. Wenn die Staaten ihre bisher gesteckten Klimaziele einhalten, wäre die Erderwärmung immer noch bei 2,4 Grad. Wenn alle weiteren Versprechungen eingehalten werden würden, wären vielleicht rund 1,8 Grad möglich“, referiert der Agrarökonom den jüngsten Bericht des IPCC. Die Schlussfolgerung liegt auf der Hand: Für das 1,5-Grad-Ziel müsste noch einmal wesentlich mehr getan werden als jetzt. Einem IPCC-Sonderbericht von 2018 nach müssten dafür die weltweiten CO2-Emissionen bis 2030 in etwa halbiert werden. Bis 2050 müsste die Welt CO2-neutral sein.

Die Folgen werden sichtbar

Das sind die Zahlen. Die Auswirkungen des Temperaturanstiegs bis jetzt, 2024, sind inzwischen überall auf der Welt deutlich wahrnehmbar. Dass der Meeresspiegel derart angestiegen ist, dass im Pazifik erste Inseln versunken sind und weitere versinken werden. Dass immer häufigere und immer heftigere Stürme verheerende Schäden anrichten. Dass der Anstieg der Meerestemperatur ganze Ökosysteme ruiniert, und damit auch den Menschen, die dort leben, die Lebensgrundlage. Dass lange andauernde Dürren Menschen in Massen zur Flucht zwingen – wegen Wassermangel, aber auch wegen der davon ausgelösten Verteilungskämpfe. Dass in der Arktis das ehemals ewige Eis schmilzt. Alles das – und noch sehr viel mehr! – ist schon seit Jahrzehnten alarmierend. Aber es war aus Sicht der Industrieländer im Globalen Norden in gewisser Weise ein abstraktes Problem: Wenn es darum ging, wirklich stringente Gegenmaßnahmen zu ergreifen, waren die Folgen des Klimawandels dann halt doch ziemlich weit weg. Der reiche Teil der Welt leistete sich einen weiteren Luxus und spielte auf Zeit.

Doch inzwischen sind die Katastrophen näher gekommen. Dürren, Waldbrände, Stürme, Überschwemmungen, teilweise in bisher ungekannter Intensität, häufen sich auch in Europa. In Deutschland waren vor allem die Flutkatastrophe im Ahrtal und die ungewöhnlich heißen Sommer der letzten Jahre, die regional zu akuter Wasserknappheit führten, tiefe Einschnitte in das Denken der Bürger*innen und der politisch Verantwortlichen. Klimaschutz mutierte von der mittel- bis langfristigen Aufgabe mit allenfalls sekundärer Priorität zum Top-Thema mit akutem Handlungsbedarf. Der Druck steigt, aber der Weg vom Reden zum Handeln ist mitunter weit. Immerhin: Der schrittweise Umstieg von der Energieerzeugung mit fossilen Brennstoffen wie Kohle und Gas auf erneuerbare Energien nimmt in den europäischen Ländern, wenn auch viel zu langsam – siehe oben – und in unterschiedlichen Geschwindigkeiten von Land zu Land, mehr und mehr Fahrt auf. Aber Krisen wie die Kriege in der Ukraine und in Gaza mit all ihren Wechselwirkungen und Folgen tragen nicht eben dazu bei, den Umbau in Energieversorgung und Industrie zu beschleunigen.

[Dass die Bemühungen immer noch nicht ausreichen, dokumentiert eine weitere Hiobsbotschaft: Wie die Forschungsinitiative Global Carbon Project kürzlich vermeldete, hat 2023 die Verbrennung fossiler Energieträger zu einem neuen Spitzenwert in Sachen weltweite Emissionen geführt.]

Schieflagen verhindern Lösungen

Um den Klimawandel zu stoppen und seine Folgen, so gut es geht, in Grenzen zu halten, sind globale Lösungen notwendig, die möglichst von allen Staaten der Welt mitgetragen werden. Soweit so klar, sonst gäbe es nicht seit 1979 Weltklimakonferenzen, die seit 1995 mit Ausnahme des Jahres 2020 jährlich stattfinden. Was die Suche nach Lösungen so ungeheuer schwierig macht, dass auch in Jahrzehnten keine wirklichen Durchbrüche erzielt werden konnten, sind diverse Schieflagen und Interessenskonflikte.

Zuerst einmal: Der Klimawandel ist per se ungerecht. Seine Auswirkungen treffen nicht die Verursacher*innen am härtesten, sondern Länder, die selbst wenig bis nichts zum Klimawandel beitragen. Viele Länder Afrikas sind von Extremwetterereignissen schwer betroffen. Oft sind die Wechsel zwischen Trockenperioden und Regenzeiten nicht mehr verlässlich kalkulierbar. Dazu kommt, dass die einzelnen Wetterereignisse immer öfter besonders heftig ausfallen, beispielsweise in Form von Starkregen und Überschwemmungen. Die Folgen sind schlechte oder komplett vernichtete Ernten, Ernährungsunsicherheit, Hunger, Krankheiten und mancherorts Verteilungskämpfe. [Besonders schlimm ist die Situation am Horn von Afrika oder im Südsudan, wo lange anhaltende Dürreperioden die Menschen zwingen, vor Hunger und Tod in die Nachbarländer zu fliehen.] Dabei trägt Afrika insgesamt nur zu vier Prozent der weltweiten Kohlenstoffdioxid-Emissionen bei. Etwas mehr als ein Drittel davon kommt aus Südafrika.

Noch krasser ist das Missverhältnis im Pazifikraum. Der Anteil der Pazifischen Inseln am weltweiten CO2-Ausstoß liegt bei nicht einmal 0,1 Prozent. Dennoch gehören sie – siehe oben – zu den Regionen der Welt, die von den Folgen des Klimawandels am stärksten betroffen sind.

Am meisten Kohlendioxid emittieren die Industrieländer, allen voran China und die USA. Von den weltweit 38 Milliarden Tonnen CO2, die 2021 in die Atmosphäre gepustet wurden, kamen über 80 Prozent von den G20-Staaten.

Zu wenig Ausgleich, wenig Chancen

Eigentlich, darum dreht sich regelmäßig ein Teil der Verhandlungen bei den Weltklimakonferenzen, müssten die Länder, die den Klimawandel hauptsächlich verursachen, den Ländern, die darunter hauptsächlich leiden, Schadensersatz leisten. Das wäre – angesichts dessen, dass vieles gar nicht wieder gutzumachen ist – wenigstens halbwegs gerecht. Bei der 28. Weltklimakonferenz (COP28) Ende 2023 in Dubai wurde immerhin der ein Jahr vorher bei der COP27 angekündigte Fonds für klimawandelbedingte Schäden und Verluste startklar gemacht. Die Finanzierung des Fonds erfolgt aber auf freiwilliger Basis. Bisher sind ein paar hundert Millionen US Dollar zusammengekommen. Zu wenig angesichts der horrenden Schäden.

Gleichzeitig gibt es einen Rückgang bei der Finanzierung von Maßnahmen zur Anpassung an den Klimawandel, zu der sich die Industrieländer im Pariser Klimaabkommen verpflichtet haben. Es wirkt in der Gegenüberstellung seltsam bizarr, dass die Mittel, die armen Ländern bei der wesentlich billigeren Vermeidung von klimabedingten Schäden helfen sollen, auf Kosten der wesentlich kostspieligeren Finanzierung der Reparatur von Schäden reduziert werden.

Handelsverträge machen alles noch schlimmer

Zur unzureichenden Hilfe und Entschädigung kommt die Praxis der weltweiten Handelsbeziehungen zwischen Industrieländern und den Ländern des Globalen Südens. Auch sie trägt nicht wirklich dazu bei, dass die ärmeren Handelspartner sich weiterentwickeln können. Selbst aktuell verhandelte Verträge wie das EU-Mercosur-Abkommen machen da keine Ausnahme. Schon im Rahmen der derzeit bilateral geregelten Handelsbeziehungen sind die Mercosur-Länder überwiegend Lieferanten unverarbeiteter Produkte. Im Jahr 2020 importierte die EU hauptsächlich Agrarprodukte wie Soja aus diesen Ländern. Laut Thomas Fritz, Referent für Handel und Investitionen bei PowerShift, ist das ein „Anreiz für mehr Raubbau, um die Sojaproduktion auszuweiten und dafür die Felder zu vergrößern.“ Wald wird gerodet, die CO2-Bindung lässt nach und in der Folge steigen die Treibhausgas-Emissionen. „Es ist unglaublich, dass man meint, ein solches Abkommen, das den Anbau waldgefährdender Produkte begünstigt, in Zeiten des Klimawandels abschließen zu müssen“, wundert sich der Handelsexperte. Haarsträubend ist auch die Situation in Chile. Ein Handelsvertrag mit der EU sorgt unter anderem dafür, dass europäische Firmen in der Atacamawüste im großen Stil Lithium, wichtiger Bestandteil von Akkus in Handys oder E-Autos, abbauen können. Das verschlingt riesige Mengen an Wasser und vergiftet die Umwelt – zu Lasten der ansässigen Bevölkerung und zu Lasten des Klimas.

Nach wie vor verfolgen die Industrieländer eine Strategie der Dekarbonisierung bei fortgesetztem Wachstum. Der Globale Süden wird möglichst billig abgespeist. Das ist ungerecht und geht über Leichen. Und: Es wird nicht funktionieren. Wir müssen umdenken: Klimagerechtigkeit jetzt!

Thomas Nagel

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