Die Überschwemmungen vor fünf Monaten waren ein Schock für viele Menschen hier im Süden Brasiliens und haben es bis in die Hauptnachrichten Europas geschafft. Was dabei oftmals unterging: Es waren nicht die ersten und werden auch nicht die letzten sein. Viele Gebiete im Bundesstaat Rio Grande do Sul werden regelmäßig überschwemmt, und auch jetzt im September und Oktober erscheinen auf meinem Handy wieder Warnungen vor Wassermassen, Stromausfällen, Blitzen und Hagel. So schlimm wie im Mai soll es aber (hoffentlich!) nicht wieder werden.
Bei einem Frauentreffen zum Thema „Die Flut vom Mai ist vorbei, was nun?“ erzählt eine junge Frau, dass ihr Haus schon im September 2023 völlig überflutet war. Sie lebt aus gepackten Kisten, um im Zweifel schnell weg zu können. In dem Stadtteil, in dem sie wohnt, stehen jedes Jahr Häuser unter Wasser. Aber da er zur Peripherie gehört und von ärmeren Schichten bewohnt wird, interessiert das die Medien und die Politik nicht besonders. Erst jetzt, wo die ganze Stadt und der ganze Bundesstaat betroffen waren, wird das Problem sichtbarer.
Nach den Überschwemmungen im Mai ist in gewisser Weise wieder Alltag eingekehrt, aber die Striche des Wasserstandes an den Hauswänden sind noch überall zu sehen. Wer hier lebt, wird täglich damit konfrontiert, was Menschen an materiellen Dingen durch das Wasser verloren haben. Der Staat bemüht sich um Unterstützung. Diese erreicht nicht alle und nur langsam. Dafür sind es NGOs, die Kirchen und zahllose Einzelpersonen, die weiterhin mit scheinbar unendlicher Kraft anpacken.
Graciela hatte ihr Haus, als das Wasser stieg, mit dem Laptop und einem Satz Kleidung verlassen. „Morgen komme ich zurück“, dachte sie. Doch das Wasser blieb einen ganzen Monat. Bis heute nehmen die Wände auch nach zwei Anstrichen immer wieder einen gelblichen Farbton an und das Haus ist von außen voller grün-brauner Algen. Aus Angst um ihre Gesundheit wohnt Graciela weiterhin auf dem Campus der theologischen Universität „Faculdades EST“, wo sie im Mai untergekommen war. Doch eine befreundete Familie ist mangels anderer Möglichkeiten in ihr Haus gezogen. Bald hat das Kind eine Lungenentzündung entwickelt, und auch die Eltern husten. Unter solchen Bedingungen leben jetzt viele Menschen. All diese Personen zählen in die Statistik als „konnten in ihre Häuser zurückkehren“.
Bei dem Frauentreffen wird sehr Persönliches geteilt. Eine 35-Jährige erzählt von ihrer Teenager-Tochter, bei der seit den Überschwemmungen die Anorexie völlig außer Kontrolle ist. Sie hatte mit ansehen müssen, wie ihr Rückzugsraum zerstört wurde, und auch ihr Hund und die Katze die Flut nicht überlebt haben. Es gibt psychologische Betreuung, aber lange nicht für alle.
Viele Kinder hatten wochenlang jeden Tag darauf gewartet, nach Hause zurückzugehen. Eltern erzählen, dass sie lange nicht die Kraft gehabt hatten, den Kindern zu sagen, dass das Haus und all ihr Schulmaterial, Spielzeug und Kleidung nicht mehr existierte.
Ich konnte ein paarmal an Besuchen teilnehmen, die Organisationen wie die UNHCR und der Menschenrechtsrat von São Leopoldo in Stadtvierteln gemacht haben, wo die Situation besonders prekär ist. Dort wohnen Menschen in Holzhäusern, die Straßen sind nicht geteert, manche haben Strom und fließend Wasser, andere nicht. Unter den Bewohner*innen sind viele migrantische Familien aus Venezuela und Haiti. Immer wieder war ich beeindruckt von der Energie der Frauen, die als Sprecherinnen dieser Stadtteile agieren. Bei den ersten Treffen erzählten die Bewohner*innen von der nächtlichen Evakuierung, woher sie später Essen bekamen und wer alles schon zurückgekommen war. Inzwischen geht es um den Wiederaufbau. Eine Frau berichtet, ihr Antrag auf staatliche Hilfe sei abgelehnt worden. Das Online-Programm hatte erkannt, dass für ihre Adresse bereits ein Antrag eingegangen war. Sie hatte, wie viele andere, den Namen der gesamten Siedlung eingetragen. Jetzt ist die Antragsfrist um. Eine der Sprecherinnen, Andréia, führt uns stolz in ein Häuschen, in dem sie jeden Tag Suppe kocht und verteilt und auch Ballett-Kurse für Kinder anbietet. Das Häuschen hat eine Gruppe Freiwilliger aus dem benachbarten Bundesstaat Santa Catarina für sie wieder aufgebaut. Sie hatten Andréia und ihre scheinbar nie endende Energie kennen gelernt und entschieden, ihre Arbeit zu unterstützen. Die kleinen Plastikstühle, auf denen auch wir sitzen, reichen lange nicht für die vielen Kinder aus der Siedlung, die zum Essen kommen. „Aber dann essen wir eben nacheinander, das macht nichts“, sagt Andréia.
Das gemeinsame Erleben dieser Katastrophe ist auch verbindend. Sicherlich wären wir als neu Angekommene in einer anderen Situation nie so schnell in so engen, emotionalen Kontakt zu den Menschen in unserer Nachbarschaft gekommen. Graciela sagt, sie habe durch das Wasser all ihren Besitz verloren. Aber menschlich habe sie so viel gewonnen. Ihr gänzlich Unbekannte haben ihre Küchen, ihre Kleidung, ihr Essen mit ihr geteilt. Und sie hat Bekanntschaften gemacht, die zu Freundschaften wurden, über die Monate des Zusammenlebens. So ging es mir auch.
Der Regen hat sich im Bewusstsein der Menschen hier als mögliche Bedrohung eingenistet, die Flut geht schon jetzt ins kollektive Gedächtnis ein. Es ist eine Zäsur im Denken. Vor den Überschwemmungen, nach den Überschwemmungen. Ähnlich wie vor Covid und nach Covid. Nur gab es hier beides. Bei einem lokalen Chortreffen erinnern drei von acht Chören an die Zeit der Überschwemmung, ein Kinderchor macht klatschend und stampfend die Geräusche von Regen nach, es werden Fahnen und Tücher in den Farben des Bundesstaates geschwenkt. Unternehmen werben mit Slogans wie „Stolz, in Rio Grande do Sul zu bleiben“ und an vielen Orten gibt es Schilder mit Texten wie „Wir bauen Rio Grande do Sul wieder auf“ und „Rio Grande do Sul, gemeinsam schaffen wir das!“
Ines Ackermann