„Lernen aus dem Leid“ – dieses Zitat stammt von Lijon Eknilang, einer Überlebenden der US-Atombombenversuche auf den Marshall-Inseln, und meint: Krankheit und Tod der Atomtestüberlebenden sollen nicht ganz umsonst gewesen sein. Wir, auf der anderen Seite des Planeten, müssen uns mit aller Kraft für die Abschaffung dieser Wahnsinns-Vernichtungswaffen einsetzen.
Meine erste Begegnung mit einem von schwerer Krankheit gezeichneten Atomtestopfer fand vor 36 Jahren auf einem Greenpeace-Schiff auf der Ostsee statt, und die Erschütterungen haben mich seither nicht mehr losgelassen. Colin Avey hat als 17-jähriger britischer Soldat, ohne Schutzkleidung und ohne jegliches Wissen über Radioaktivität, aus nächster Nähe an britischen Atomwaffenversuchen auf der heute zum Pazifikstaat Kiribati gehörenden Weihnachtsinsel (Christmas Island) teilgenommen; die Begeisterung der jungen Leute war damals so groß, dass sich Colin Avey einen riesigen Atompilz auf Brust und Bauch hat tätowieren lassen. Was für ein täglicher Horrorblick in den Spiegel eines Todkranken.
In den folgenden Jahren habe ich als freiberufliche Hörfunkjournalistin auf verschiedenen Pazifikinseln Atomtestüberlebende interviewt, vor allem Frauen, die aufgrund eigener radioaktiver Verseuchung oder durch Strahlenschäden ihrer auf Atomtestgeländen arbeitenden Ehemänner viele Fehl- und Missgeburten erlitten hatten.
Lijon Eknilang lebte auf der kleinen Insel Ebeye (Marshall Islands), als ich sie Ende 1987 kennenlernte, unter schlimmen Bedingungen. Auf einer winzigen Fläche hatte die US-Regierung die Menschen zusammengepfercht, denen sie ihre Heimatinseln als Militärgelände geraubt hatte. Warmherzig und immer mit einem Lächeln im Gesicht, so erzählte Lijon von dem Grauen, das sie erleben musste, von der Explosion der Wasserstoffbombe mit dem Code-Namen „Bravo“ am 1. März 1954 auf dem Bikini-Atoll, mit einer Sprengkraft von etwa 1000 Hiroshima-Bomben, von dem radioaktiven „Schnee“, der auf die Bewohner der Inseln Rongelap, Ailinginae, Rongerik und Bikar niederregnete, von der Evakuierung erst zweieinhalb Tage später, als den Inselbewohnern schon ein Teil der Haare ausgefallen waren und sich große Hautfetzen gelöst hatten, und von der Rücksiedlung der Bewohner nur drei Jahre später auf ihr immer noch todbringend verseuchtes Atoll. Und Lijon berichtete von ihren eigenen Gesundheitsproblemen, Schilddrüsenoperationen, Knötchen in der Brust, Problemen mit Augen, Nieren und Magen, und von ihren sieben Fehlgeburten und davon, was Kinderlosigkeit für eine Marshallesin bedeutet. Schwer erträgliche Schilderungen von einer sehr beeindruckenden Frau, die wir dann im Jahr 2004 zu unserer Pazifik-Netzwerk-Tagung in Berlin einladen konnten. Im Jahr 2012 verstarb Lijon Eknilang, aber sie lebt in der Erinnerung all derer fort, die sie damals kennenlernten.
Ob die Atommächte einfach abwarten wollen, bis sich die Frage nach Entschädigungszahlungen durch den Tod der direkt Bestrahlten löst? Viele Tausend sind schon an Krebs gestorben. Die USA haben, nach 67 oberirdischen Atomtests auf den Marshall Islands, zwar grundsätzlich Entschädigungen für deren Bewohner zugestimmt, doch ist das bewilligte Geld längst aufgebraucht. Für Behandlungskosten und Medikamente steht nichts mehr zur Verfügung. In Frankreich (193 Atomexplosionen in Französisch-Polynesien) wird seit zehn Jahren über die konkrete Durchführung eines erst viel zu spät zustande gekommenen Entschädigungsgesetzes gestritten. Dass sich Strahlenschäden über Generationen fortsetzen, ist bisher gar nicht berücksichtigt. Was mich persönlich aber besonders wütend macht, ist der fehlende Respekt gegenüber den Menschen, deren Gesundheit ruiniert wurde und denen nun in endlosen Anerkennungsverfahren auch noch die Würde genommen wird.
Ein weiteres Problem, das mich bewegt, ist die völlige Verantwortungslosigkeit der Atommächte für ihre nuklearen Hinterlassenschaften vor Ort, die noch viele Generationen in Ozeanien bedrohen werden. Auf der Insel Runit im Eniwetok-Atoll (Marshall-Inseln) haben die USA in den 1970er-Jahren hochgiftiges Plutonium aus einem missglückten Atomtest, weiteren radioaktiven Abfall und Giftmüll in einen Bombenkrater verfüllt und mit Zement bedeckt. Eine Abdichtung zum porösen Korallenkalkgestein gibt es nicht, hier freigesetztes Plutonium lässt sich bis ins Südchinesische Meer nachweisen. Der riesige Zementdom liegt auf Meereshöhe, Pflanzen wachsen in den Rissen der Betonkuppel und langsam frisst sich mit dem Klimawandel der steigende Meeresspiegel in den Dom des Todes. Für das, was hier an tödlichen Giften über kurz oder lang freigespült wird, seien die Marshall-Inseln zuständig, heißt es aus den USA.
Auch wir neigen dazu, Probleme zu verdrängen. Wie oft denken wir an die etwa 13.400 Atomwaffen, die uns weltweit bedrohen? Fast 4.000 davon sind sofort einsatzbereit – mehr als genug, um die Welt komplett zu zerstören. Gegen diesen Wahnsinn müssten wir viel öfter protestieren als nur zum Hiroshima-Gedenktag am 6. August.
Ingrid Schilsky