Hoffnungsblumen in einem Gottesdienst an der EST (Foto: Ines Ackermann)
Jetzt sitze ich also hier an meinem Schreibtisch am PC, mit einem Kaffee, in unserem schönen Haus mit Garten in São Leopoldo, Brasilien. Der Regen plätschert vor dem Fenster, es wird herbstlich, ich muss das Licht anschalten. Im Wohnzimmer höre ich unsere Kinder spielen. Ich kann ein bisschen so tun, als wäre alles beim Alten, denn wir wohnen auf dem „Spiegelberg“, neben der Universität Faculdades EST, und unser Haus wurde von den Wassermassen verschont. Aber direkt über uns höre ich einen der Rettungshubschrauber und während ich diesen Absatz schreibe, sind etwa 80 Nachrichten in verschiedenen WhatsApp Gruppen auf meinem Handy eingegangen: In einer Notunterkunft werden ganz dringend noch 300 Portionen Essen gebraucht. Die Schwiegermutter sitzt noch allein im Hochhaus fest, ohne Trinkwasser, kann jemand sie mit einem Boot retten? Ärzt*innen haben sich zusammengeschlossen und stellen online Rezepte aus. Eine lange Liste von Kindern, die ihre Eltern suchen. Ein Gebet. Und immer wieder dazwischen: Warnungen vor Überfällen und Gewalt, und Infos der Regierung über kursierende Falschmeldungen und den aktuellen Pegelstand des Flusses.
Wir sind vor gut sechs Monaten mit der Familie hierhergekommen, um bei der Evangelischen Kirche Lutherischen Bekenntnisses in Brasilien (IECLB) mitzuarbeiten, vor allem rund um das 200-jährige Jubiläum, der „lutherischen Anwesenheit in Brasilien“, was gleichzeitig auch mit dem 200. Stadtjubiläum von São Leopoldo zusammenfällt, bei dem die Ankunft der ersten deutschen Siedler*innen hier gefeiert werden sollte. São Leopoldo ist eine Stadt mit gut 200.000 Einwohner*innen und ist mit ein paar anderen Städten zusammengewachsen zu einem großen Ballungsraum bis Porto Alegre, der 1,5-Milionen-Hauptstadt von Brasiliens südlichstem Bundesstaat Rio Grande do Sul.
Seit einer guten Woche ist niemandem hier mehr nach Feiern zumute. Am 2. Mai, einem Donnerstag, wurden auf Grund von starkem Regen alle Schulen geschlossen, Straßen wurden unpassierbar, Brücken gesperrt. Zwei Tage darauf sagte der Stadtpräsident in einer verzweifelten Ansprache, dies sei der schlimmste Tag in der 200-jährigen Geschichte der Stadt. Alle hatten gewusst, dass es zu Überschwemmungen kommen könnte, allein in den wenigen Monaten, in denen wir hier sind, haben auch wir schon überschwemmte Häuser und Felder in der Umgebung erlebt. Dass der Fluss auf über 8 Meter steigen würde, der Damm nicht nur brechen, sondern auch überlaufen würde, zahlreiche Stadtviertel bis in die Obergeschosse der Häuser überflutet und schließlich die Stadt weit bis in die Innenstadt unter Wasser stehen würde, damit hat offenbar niemand gerechnet. Wie die Infrastruktur einer Stadt ineinander verwoben ist, lernen wir jetzt: Pumpen gehen kaputt, also steht die Wasserversorgung der gesamten Stadt für eine Weile still, in manchen Vierteln ist auch der Strom abgestellt. Straßen sind unbefahrbar, also wird die Versorgung schwierig, Benzin ist zum Beispiel Mangelware. Menschen haben Angst vor Versorgungsengpässen und kaufen die Supermärkte leer. Hier gab es eine Weile kein Trinkwasser zu kaufen, aber auch keine Eier und wenig Brot. Klopapier wollte niemand hamstern. Inzwischen ist das meiste wieder zu haben und wir haben auf unserem Berg auch Strom, Wasser und Internet.
Grundausstattung für die Arbeit in den Notunterkünften (Foto: Ines Ackermann)
Wie fast alle meine Bekannten helfe ich jetzt viel in den Notunterkünften mit, wo wir Kleidung, Essen und Matratzen verteilen, Listen schreiben und versuchen, wieder etwas mehr Ordnung und Perspektive zu schaffen. Das ist nicht einfach, da ein Großteil der Stadt und aller Nachbarstädte unter Wasser steht, und Tausende von Menschen ihre Häuser verlassen und oft auch ganz verloren haben. Die Zahlen variieren so stark und sind so abstrakt, dass ich nicht versuche, die richtigen zu finden. Was wir sehen: Die Menschen haben oft nur noch die Kleider am Leib, und die sind nass. Sie suchen ihre Familien und Freunde, manchmal haben sie Haustiere dabei oder mussten sie zurücklassen. Wer eine Matratze bekommt und eine Decke, ist froh.
Wir alle fragen uns: Wie wird es jetzt weitergehen? Was wird unter dem Wasser auftauchen? Welche Krankheiten bringt das Wasser? Auf Grund der vielen Fälle von Dengue-Fieber waren die Einwohner*innen schon in den letzten Wochen stets angehalten, stehendes Wasser zu vermeiden, damit die Mücken, die die Krankheit übertragen, nicht brüten können. Mehr stehendes Wasser als aktuell kann ich mir nicht vorstellen. Und wohin sollen die vielen Menschen gehen, die alles verloren haben, deren Häuser im Wasser regelrecht davongeschwommen sind? Einige meiner Bekannten haben ihre Häuser samt Inhalt vermutlich ganz verloren, das Wasser ist weit bis ins Obergeschoss gestiegen. Wie viel von unserem Geld, unseren Dingen, unserem Wohnraum können wir mit ihnen teilen, und gibt es eine Chance, dass sie ihr Leben wieder aufbauen können?
Gespendete Schuhe in einer Notunterkunft (Foto: Ines Ackermann)
Der Wille zu helfen und zu teilen ist nicht weit weg von der Angst vor Raub und Plünderungen. Wer kann, bewacht sein Hab und Gut. Ein Freund, der seine Wohnung auf einer Luftmatratze paddelnd verlassen musste, hat erzählt, seine Sachen im 4. Stock eines Hochhauses seien offenbar sicherer, als er sich das je gewünscht hat. Im Nachbarschafts-Chat habe er gelesen, dass die Nachbarn nun in Schichten Wache stünden vor dem teils überschwemmten Haus, mit Schusswaffen.
Die Situation erinnert mich stark an die ersten Wochen nach Beginn des Ukraine-Krieges: die Massenunterkünfte und das Leid, und gleichzeitig ganz viel Hilfe, Zuspruch und Dankbarkeit. Bei all der Trauer um das, was um uns geschieht, ist es auch wunderbar zu sehen, wie die gegenseitige Unterstützung funktioniert und wir zusammen lachen und weinen können.
In den letzten Tagen hat wieder starker Regen eingesetzt, die Stadt warnt eindringlich davor, in schon betroffene Häuser zurückzukehren, denn das Wasser steigt wieder. Trotzdem gibt es Hoffnung, dass die Schulen im Laufe der Woche wieder aufmachen, mit allen, die es schaffen, sich dahin durchzukämpfen. Es ist noch ein sehr, sehr weiter Weg zur Normalität, aber alle arbeiten daran. Denn auch wenn sich manche Momente hier zwischendurch wie immer anfühlen – kaum noch etwas ist wie vor dem Wasser.
Ines Ackermann