Eine Überanpassung mit fatalen Folgen. So könnte man die teilweise mit großer Begeisterung vollzogene Hinwendung der Mission, insbesondere auch der Neuendettelsauer, zum Nationalsozialismus überschreiben. Wie es dazu kam und wie tief die Nazi-Ideologie in der Mission verankert war, beschäftigt die Forschung bis heute. Die Fachtagung der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ludwig-Maximilians-Universität München (LMU) mit dem Titel „Äußere Mission und Nationalsozialismus“, die Ende Oktober bei Mission EineWelt stattfand, gab einen Überblick über den gegenwärtigen Stand der Forschung.
Ein „Spannungsverhältnis“, attestierte Harry Oelke, bis 2023 Professor für Kirchengeschichte an der Ludwig-Maximilians-Universität München, der Interaktion von Nationalsozialismus und Mission. „Der Nationalsozialismus forderte die Mission heraus wie kein anderes System. Er war übergriffig und entwickelte einen permanenten Druck zur Anpassung.“ Im Prinzip sei, führte Oelke weiter aus, in dieser Situation Anpassung genauso möglich gewesen wie Widerstand. In der Realität allerdings waren die Missionsgesellschaften traditionell konservativ und nationalistisch geprägt. Deshalb hätten sich die Missionare von je her als „geistige Botschafter des Reiches“ verstanden, erläuterte Oelke. Viele sahen in Hitlers Regime eine starke völkisch-religiöse Aufbruchsbewegung, und in der Mission die perfekte Ergänzung dazu. Sie seien dann „überrascht“ gewesen, „dass die Nazis das gar nicht wollten“, brachte der Theologe in Kürze die Geschichte der fatalen Interaktion von Mission und Nationalsozialismus auf den Punkt.
Wie stark sich große Teile der Missionsgesellschaften an die Nazis anbiederten, lässt sich auch anhand damaliger Missionspublikationen nachvollziehen. Jonas Licht, Religionswissenschaftler und Lehrer aus Hamburg, zeigte das am Beispiel der Neuen Allgemeinen Missionszeitschrift NAMZ. Diese hat laut Licht viele Texte veröffentlicht, die „den Nationalsozialismus begrüßen“ und die Rassenlehre der Nazis propagieren. Wo die Unterstützung nicht offensichtlich war, seien die Artikel „unverfänglich gewesen“. Es habe eine „starke Selbstzensur“ gegeben, bilanzierte Licht. Noch krasser agierte die Zeitschrift der Berliner Missionsgesellschaft. Dort wurde erstmals das „Wort der Mission zur Rassenfrage“ veröffentlicht. Laut Licht ist dieser Text, der vom damaligen Direktor der Berliner Mission, Siegfried Knak verfasst wurde, „das wohl am meisten rassistische Dokument aus der Mission in der NS-Zeit“. Unter anderem heißt es dort, Gott habe die Juden mit Zerstreuung unter die Völker bestraft, und „das jüdische Volk“ würde „den Völkern, unter die es verstreut ist, so oft Verderben“ bringen. Von daher sei staatliche Gewalt gegen Juden gerechtfertigt: „Der Staat darf, wo es not tut, harte Maßnahmen nicht scheuen.“ Bei der Frage, „ob christliche Deutsche und christliche Juden untereinander heiraten sollen [sic!]“, hielt man sich bedeckt: „Ein Jude wird durch Taufe und Glaube nicht ein Deutscher, darum hat die Mission nichts mit der Frage zu tun.“ Diese Entscheidung überlasse man dem Staat. Allerdings hielt Knak daran fest, dass „christusgläubige Juden“ als „Glieder der Kirche Christi wie die gläubigen Menschen aller Völker zur Christenheit gehören“. Mit diesem „Wort“, erklärte Jonas Licht, sei „der Antisemitismus genuin missionarisch gewendet“ worden. Ironie der Geschichte: Die Nazis wiesen den Text zurück. Auch als 1936 eine verschärfte Version in der NAMZ erschien, war das nicht genug. In den Jahren 1939 und 1940 wurden beide Zeitschriften sogar verboten. Lichts Fazit in Anlehnung an den Historiker und Missionstheologen Werner Ustorf: „Die deutsche evangelische Mission ist auf der braunen Welle geschwommen.“ Das Verbot der Zeitschriften sei kein Zeugnis einer Renitenz seitens der Mission, sondern vielmehr Resultat einer „asymmetrischen Liebesbeziehung“ gewesen. Die Nationalsozialisten sahen in der Mission wie in den Kirchen insgesamt eine auf Dauer unnötige spirituelle Konkurrenz.
Die ambivalente Beziehung zwischen Mission und Nationalsozialismus kann als eine zwischen Hingabe seitens der Mission und Abweisung seitens der Nazis gelesen werden, und gleichzeitig als Widerstreit zwischen einer Art „Restwillen“ der Mission zur Unabhängigkeit in Form einer eigenständigen Rolle und dem Absolutheitsanspruch des Nazi-Regimes, das solche Sonderrollen nicht akzeptierte, sondern auf Gleichschaltung aller gesellschaftlichen Akteure aus war. Wobei die aktive Anbiederung seitens der Mission wesentlich deutlicher hervorsticht als die sehr verhaltene Behauptung der Eigenständigkeit, die nicht ansatzweise in aktiven Widerstand mündete. Vor dem Hintergrund historischer und gesellschaftlicher Entwicklungen ordnete Moritz Fischer, Professor an der Fachhochschule für Interkulturelle Theologie (FIT) in Hermannsburg, die Hinwendung der Mission zum Nationalsozialismus als Suche nach einer „alternativen Moderne“ ein. Im Kontext dieser Suche nach einer Alternative zu Demokratie und am Ende gar Sozialismus, die mit der Angst vor einer Säkularisierung der Gesellschaft und einem damit verbundenen Bedeutungsverlust von Kirche und Mission verbunden war, sahen viele Vertreter von Kirche und Mission im Faschismus verheißungsvolle Parallelen zu eigenen Sichtweisen und Sehnsüchten. Fischer zitierte die Faschismus-Definition des US-amerikanischen Autors Matthew N. Lyons, wonach Faschismus den „Mythos einer nationalen oder rassischen Wiedergeburt im Anschluss an eine Periode des Niedergangs oder der Zerstörung“ betone und „zu einer ‚spirituellen Revolution‘ gegen Anzeichen des moralischen Verfalls, des Individualismus und des Materialismus“ aufrufe. In der Mission war man begeistert von dieser Bewegung. „Wir Missionare begrüßen mit tiefster Freude den Anbruch des Dritten Reiches; denn hier kam das Denken zu einem Durchbruch, den wir längst als richtig erkannt haben, besonders in der Mission. So sollte man wohl im Umkehrschluss denken, dass die Menschen des Dritten Reiches die wahrhaft große Idee des Reiches Gottes verstehen müssen“, brachte der damalige Missionsinspektor Christian Keyßer nicht nur die Begeisterung auf den Punkt, sondern auch die damit eng verbundene Hoffnung auf eine zentrale Rolle für Kirche und Mission in der neuen Staatsform.
Erfüllt haben sich diese Hoffnungen nicht. „Die Mission als vermeintliche Bündnispartnerin des deutschnationalistischen Faschismus wird – zum Leidwesen vieler ihrer Protagonisten – von diesem aber ab 1934 in ihre Schranken verwiesen und kommt an ihre Grenzen“, resümierte Fischer.
Und danach? – Die sehr allgemein gehaltenen Schuldbekenntnisse von glühenden Verfechtern des Nationalsozialismus wie Christian Keyßer oder Missions-Direktor Friedrich Eppelein nach dem zweiten Weltkrieg waren nach Einschätzung Fischers „wahrscheinlich eher formal“. Damit sei die „Chance“, die Verwicklung der Mission in den Nationalsozialismus frühzeitig aufzuarbeiten, „verpasst“ worden.